16. September 2023

„Ich sehe was, was du nicht siehst …“

Ob sie nur herumsteht und keinem mehr auffällt, diese Eule? Weil sie schon seit Jahren zum Inventar der St. Franziskus-Grundschule gehört. Wenn ich genauer hinschaue, nehme ich sie wahr und sehe sie wieder. Und dann?

Titelbild für Beitrag: „Ich sehe was, was du nicht siehst …“

„Ich sehe was, was du nicht siehst …“

Vielfach bekannt ist jenes gleichnamige Kinderspiel. Ich mache mich dabei auf die Suche nach Gegenständen in meiner Umgebung, die ich entdecken kann. Durch jenen Satz „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist …“ werden sie angedeutet. Nach und nach kann ich die Attribute des zu Findenden näher beschreiben. In der Hoffnung, so rascher zu einer Lösung zu kommen. Als Achtsamkeitsübung kann es nicht nur in der St. Franziskus-Grundschule oder im Schulhort gespielt werden.

„Ich sehe was, was du nicht siehst …“

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wer etwas sieht und wer nicht. So mancher meint, alles mitzubekommen und sieht buchstäblich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Andere blicken interessiert um sich und nehmen viel wahr. Sie erkennen unterschiedliche Menschen, Dinge, die ihnen auffallen. Sogar Nebensächlichkeiten in den Augen anderer, die diese nicht bemerken würden. Deshalb, weil sie ihnen nicht wichtig oder als nicht beachtenswert erscheinen.

„Ich sehe was, was du nicht siehst …“

Ein bedeutendes Kunstwerk ist sie nicht, die stilisierte Eule aus Holz mit den angedeuteten gelben Flügeln. Doch auch bei ihr wie für die angeheftete rote Rose mit dem grünen Stiel und dem einen sichtbaren Blatt haben die genau überlegt, die sie letztendlich geschaffen haben: Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der geistigen Entwicklung. Sie besuchen die von den Thuiner Franziskanerinnen gegründete und geleitete „St. Franziskus-Förderschule“ in Dingelstädt im Eichsfeld. Einige von ihnen haben der St. Franziskus-Grundschule hier in Halle diese einzigartige Kreation zukommen lassen.

„Ich sehe was, was du nicht siehst …“

Dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt, ist hinreichend bekannt. Was die einen zu schätzen wissen – nicht nur im Bereich der Kunst –, erschließt sich anderen nicht. Ist für sie nicht der Rede wert. Finden sie „nicht schön“. Es „gefällt ihnen nicht.“ Deshalb lehnen sie es ab. Sie sehen und erkennen nicht, was für ihre Mitmenschen sehenswert, erwähnenswert und der Förderung wert ist. Vom Pädagogen und ehemaligen Schulleiter Dr. Bernhard Bueb stammt dieser Satz: „Kein Kind darf verloren gehen, an das der Lehrer glaubt.“ Er findet sich aus gutem Grund auf der Website der SFG an prominenter Stelle. Denn in der St. Franziskus-Grundschule und im Hort versuchen wir gemeinsam, das jeden Tag neu erfahrbar, sichtbar und spürbar zu machen. Es ist Gabe und Aufgabe zugleich. Hoffnung und Herausforderung. Wunsch und Wirklichkeit.

„Ich sehe was, was du nicht siehst …“

Den eigentlichen Wert eines Kindes kann ich äußerlich nicht erkennen. Dass Mädchen und Jungen manchmal ordentlich Nerven kosten und viel Geduld brauchen, erleben wir nicht nur im schulischen Alltag oder in den Stunden, in denen Schülerinnen und Schüler sich im Hort aufhalten. Nicht nur, weil sie noch nicht alles können und kennen. Sondern auch, weil sie ihren ganz eigenen Willen und ihre persönlichen Vorstellungen von Schule und Hort, von Gott und der Welt haben. Nicht immer sind es die unseren. Manchmal sehen Kinder und bemerken etwas, das mir gar nicht auffällt. Nicht, weil ich betriebsblind wäre. Sondern eher deswegen, weil ich gerade mal wieder meinen Kopf voll habe mit all dem, was getan, gemacht, erledigt, angeleitet, unterstützt und gefördert werden soll. Und deshalb nicht sehe, was sie sehen.

„Ich sehe was, was du nicht siehst …“

Die Holzeule aus Dingelstädt hat keine offenen Augen. Warum es so ist, weiß ich nicht. Darf ich nicht auch manchmal meine Augen schließen? Für das, was mich gerade aufregt und mir meine gute Laune verdirbt. Bei dem, was so ist, wie es eben ist. Was mich an die Grenzen meiner Belastungsfähigkeit und meines Durchhaltevermögens bringt.

Überall dort, wo sich Menschen begegnen, darf ich mich trotzdem immer wieder darum bemühen: Zu sehen und zu erkennen, was anderen nicht sofort auffällt: Dass jedes Kind einzigartig und einmalig ist. Obwohl es so ist, wie es ist. Besser: Weil es so ist, wie es ist.

Liebenswert nicht nur für den Schöpfer oder ihre und seine Eltern und Geschwister. Entwicklungsfähig. Noch lange nicht fertig oder gar schon am Ende. Darf ich nicht fördern, dass wir uns alle wieder mit neuen Augen sehen? Jeden Tag? Nicht, weil wir die oft harte Wirklichkeit auch in Schule und Hort nicht mehr aushalten könnten. Sondern, weil wir die Kinder haben, die unsere Schule besuchen. Auch, weil wir, so, wie wir sind, dazu beitragen dürfen, dass Menschen wieder Mensch unter Menschen sein können: Nicht perfekt. Mit meinen Ecken und Kanten, die zu jeder Persönlichkeit gehören.

Hatte er nicht Recht? Der Verfasser des „Kleinen Prinzen“, Antoine de Saint-Exupéry, wenn er sagte: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Nicht nur in der St. Franziskus-Grundschule und im Hort.

Br. Clemens Wagner ofm, Schulseelsorger